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30.06.2022 – Wenn Bildungsbürokratie Lernende Ausgrenzt

Freiwillige von wLw bei einer Verteilaktion in Zürich

«Wir leben im Jahr 2022 und vielerorts wird immer noch nicht verstanden, welche Rolle ein Laptop in der Bildung und in der alltäglichen Teilhabe spielt.» Die Worte des Gründers und Geschäftsleiters von Wir lernen weiter (kurz wLw) sind klar und deutlich, denn auch in diesem Sommer drohen, laut dem Verein, schweizweit viele Lehrlinge und Studierende Geräte mit deutlich zu hohen Anforderungen beschaffen zu müssen. Das Konzept «Bring your own Device» (kurz «BYOD» oder  auf Deutsch «Bring Deinen eigenen Laptop in den Unterricht), hat sich in der Bildungswelt fest verankert und somit müssen Auszubildende nach der Volksschule überall einen eigenen Laptop mitbringen. Finanziell ist dies dann problematisch, wenn von Schulen verlangt wird, dass hochwertige Geräte vorausgesetzt werden – speziell für Armutsbetroffene. Ohne Laptop kann heute eine Lehre oder ein Studium nicht mehr bestritten werden, da viele Lehrmittel und Unterlagen nur noch digital verteilt werden. 


Ausgangslage

Der Verein «Wir lernen weiter» verteilte seit April 2020 Laptops an armutsbetroffene Familien und Einzelpersonen in Zusammenarbeit mit vielen kommunalen und kantonalen Sozialämtern und anderen Organisationen. Seither konnten bereits rund 5’000 Laptops neue Nutzer:innen finden, die sich diese Ausrüstung ansonsten nicht leisten könnten. Die Zeit vor den Sommerferien ist für das Team von Wir lernen weiter (kurz wLw) nicht einfach: Vielerorts wird verzweifelt nach günstigen Laptops gesucht, die immer höheren Anforderungen erfüllen müssen. So findet man auf vielen Anforderungsschreiben von Berufsschulen beispielsweise eingabefähige Bildschirme («Touchscreens»). «Wir verstehen, dass dies in technischen und gestalterischen Berufen sinnvoll ist. Doch bei uns hört das Verständnis auf, wenn dann die Kauffrau oder der Detailhandelsfachmann solche Kriterien erfüllen muss», so Schär. Das Problem sei nicht, dass Touchscreens nicht sinnvoll wären, aber die Unterschiede in den Beschaffungskosten sind massiv. 

Nicht nur Touchscreens, sondern auch andere Anforderungen lassen beim Team Fragezeichen aufkommen. So schreiben einige Schulen vor, dass Geräte nicht älter als drei Jahre sein dürfen. Andere Anforderungen, wie grosse Festplatten, leistungsstarken Arbeitsspeichern und Prozessoren, führen dazu, dass eventuell vorhandene Geräte als zu alt oder zu leistungsschwach gedeutet werden und eine Neubeschaffung aufgrund der BYOD-Strategie unumgänglich scheint. Solche Richtlinien haben für einzelne Familien gravierende Folgen: «In der Praxis erhalten die Eltern oder die Lernenden einen Brief mit Forderungen, die sie nicht verstehen. In vielen Berufsbildern sind Touchscreens klar optional, denn uns ergeben sich keine Anwendungsfälle, ausser man möchte PDFs bearbeiten – dies kann man auch ohne TouchScreen problemlos vornehmen. Wir rechnen damit, dass etwa 3/4 aller Berufsschulen Touchscreen als notwendig empfinden, obwohl auch ohne ebendiese der Unterricht geschehen kann». wLw liefert ein einfaches Beispiel: Für CHF 500.- erhält man bereits gute Geräte, die für den Schulalltag ausreichen. Will man hingegen einen Touchscreen dazuhaben, ist dieser Preis schnell doppelt so hoch.

In der Schweiz waren im Jahr 2019/2020 rund 8.5% aller Einwohner:innen der Schweiz von Armut betroffen, sowie etwa weitere 15,4% von Armut bedroht. Besonders betroffen sind Einelternhaushalte und Personen mit Migrationshintergrund. Schär meint, dass wenn jede vierte Person in der Schweiz in Armut lebt oder von dieser bedroht wird, einfache Massnahmen viel bewirken können.

Handlungsempfehlungen

Schär fügt an, dass es aber auch gute Beispiele gibt, bei denen die Berufsschulen auf externe Tablets hinweisen, die Touch-Funktionalitäten ermöglichen. Die Preise beliefen sich hierbei zwischen CHF 50-80.-. Es gibt auch Schulen, die den Touchscreen als optional auflisten. Andere Bildungsstätten stufen je nach Berufsbild die Anforderungen auch ab, was in den Augen von Schär eine einfache und schnelle Massnahme für alle wäre. Solch pragmatische Lösungsansätze sind gemäss ihm aber rar – oftmals zu Lasten derer, die schon jeden Rappen zweimal umdrehen müssen. Eine gute Lösung hat so beispielsweise das BWZ Lyss gefunden, die drei verschiedene Laptopkategorien festhalten und diese dann für entsprechenden Berufsbilder festlegen. «Dort wird verstanden, dass man auch noch mit einem 7-8-jährigen Gerät anständig arbeiten kann.», so Schär.  

wLw weist Schulen aktiv darauf hin, dass die Beschaffungskosten für Auszubildende höher sind, wenn mehr gefordert wird. «Vielen sind die Implikationen solcher Preisunterschiede nicht bewusst. Armutsbetroffene Familien werden sich aber oftmals nicht zu helfen wissen und wohl selten die Mittel haben, um neue Geräte zu beschaffen. Wenn man dann im schlimmsten Fall aufgrund von zu hohen Geräteanforderungen einen Mikrokredit oder eine Ratenzahlung aufnimmt, ist man schon mit einem Fuss im Sozialamt. In den Fachgeschäften wird man nicht beraten, sondern es wird in der Regel verkauft, was dann wiederum zu höheren Preisen führt».

Einige Schulen bieten mittlerweile auch Verleihangebote an, meist im Rahmen von CHF 300-400.- pro Schuljahr. «Für den gleichen Preis kann man auch ein neues Gerät kaufen, das die Zwecke über die gesamte Ausbildungszeit problemlos erfüllen würde; und man behält am Schluss sogar das Gerät».

Der Verein möchte nun die entsprechenden Fachverbände in die Pflicht nehmen, damit realistische Mindestanforderungen pro Berufsbilder verfasst werden. «Jetzt liegt’s an ebendiesen Stellen, sowie an den einzelnen Schulen. Gerade in der Digitalisierung sollten pragmatische Lösungen immer im Zentrum stehen, wo möglich. Und neu erfinden muss man in diesen Belangen nichts: Nur der Wille muss gegeben sein.» Schär durfte bereits vor eineinhalb Jahren bei der SSBK (Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz) zum Thema der digitalen Grundversorgung vortragen, doch geändert habe sich seiner Meinung nach zu wenig: «Wir werden weiterkämpfen.»

So geht’s weiter

Alleine im letzten Juli und August hat der Verein schweizweit 650 Lehrlinge mit wichtiger Grundausstattung ausgerüstet. Dieses Jahr rechnet man mit fast dem doppelten Volumen. Schär: «Armut ist in der reichen Schweiz wenig sichtbar. Viele von uns werden auch nicht alltäglich mit Fragen beschäftigt, wie man die nächste Miete, Kinderkleider oder beispielsweise einen einfachen Laptop beschafft. Arme haben politisch auch keine Lobby und sind oftmals auch ganz von der digitalen Teilhabe ausgeschlossen. Die Folgekosten davon tragen alle Steuerzahlenden.»

Der Verein arbeitet schweizweit mit über 700 Gemeinden und anderen Partnern zusammen. Für einen festen Unkostenbeitrag von aktuell CHF 150.- können diese Partner Laptops beim Verein beziehen, der damit seine Aufwände selbstfinanziert deckt. Die Laptops werden also geschenkt, denn die erhält der Verein auch kostenlos von Unternehmen, Gemeinden oder Privaten. «Damit zahlen wir aber alle anderen Aufwendungen, wie beispielsweise den Betrieb unserer Infrastruktur, Personalkosten und Ersatzmaterial.»

Wir lernen weiter setzt sich weiterhin für genau diese Belangen ein und hofft darauf, dass diese einfach zu lösende Problemstellung in den folgenden Jahren berichtigt werden. Geholfen würde dann vor allem denen, die sonst schon nicht viel zum Leben haben.


Medienauskünfte: kontakt@wir-lernen-weiter.ch / +41 56 521 30 29

Webseite wLw: https://wir-lernen-weiter.ch/

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